Bei der Europawahl hat die AfD in Thüringen die CDU von Platz eins verdrängt, mit ihrem Personal aber die Stichwahlen um die Landratsämter verloren. Der Erfurter Politikwissenschaftler André Brodocz sieht die AfD in einem Dilemma. «Sie ist stärkste Kraft, aber weit von Mehrheiten entfernt», sagte er am Montag der Deutschen Presse-Agentur in Erfurt. Der AfD fehle damit eine reale Machtoption. «Um Politik zu gestalten, müsste die AfD koalitionsfähig werden.» Sonst laufe die Partei, die in Thüringen vom Landesverfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird, Gefahr, dass «ihre Wähler auf Dauer möglicherweise unzufrieden sind».
Thüringens SPD-Chef Georg Maier wies darauf hin, dass alle AfD-Kandidaten bei den Stichwahlen leer ausgingen. «Und das macht deutlich, dass die Menschen der AfD, wenn es um Personen geht, nichts zutrauen. Die haben kein personelles Angebot.» Bei den Stichwahlen zu den Landratsämtern und Rathäusern am Sonntag konnte vor allem die CDU punkten, die ihre Rolle als starke Kommunalpartei stabilisierte.
Erfolg für den Newcomer
Bei der Europawahl erreichte die AfD am Sonntag 30,7 Prozent und landete damit noch vor der CDU, die auf 23,2 Prozent kam. Einen Newcomer-Erfolg feierte das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das aus dem Stand bei der Europawahl in Thüringen auf 15 Prozent kam. Der Thüringer BSW-Landesverband hatte sich erst Mitte März gegründet. Größter Verlierer bei der Europawahl war die Linke von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow - ihr Ergebnis von 5,7 Prozent lag um 8,1 Prozentpunkte niedriger als bei der Europawahl 2019. Die SPD kam auf 8,2 Prozent, die Grünen auf 4,2 und die FDP auf 2,0 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei 61,9 Prozent und damit leicht über dem Ergebnis vor fünf Jahren.
Experte Brodocz sagte, dass mit dem BSW für die AfD eine Konkurrenz erwachse. Es gebe damit quasi eine «Alternative zur Alternative». Das gelte vor allem, aber nicht nur bei Protestwählern. Für eine Parteineugründung in diesem Jahr sei das BSW-Europawahlergebnis in Deutschland insgesamt, vor allem aber im Osten sehr beachtlich, sagte Brodocz. «Das hat weitreichende Auswirkungen.» Erstmals seit mehreren Jahren gebe es in Thüringen, wo am 1. September ebenso wie in Sachsen ein neuer Landtag gewählt wird, rechnerisch eine Mehrheit jenseits der AfD. Sollten sich Umfragewerte stabilisieren, sehe er diese Mehrheit bei CDU, SPD und BSW.
Das Ergebnis des BSW wertete Landesparteichefin Katja Wolf als Rückenwind für die Landtagswahl. «Das ist für uns natürlich ein großer Erfolg. Mit dem ich in der Größenordnung auch nicht gerechnet habe», sagte Wolf der dpa.
SPD-Chef fordert Ost-Themen
Maier räumte ein, dass es der SPD bei der Europawahl nicht gut gelungen sei, ihre Themen zu setzen. «Das wir in Ostdeutschland die niedrigsten Durchschnittsrenten haben, die niedrigsten Durchschnittslöhne, muss einfach auf die Tagesordnung ganz nach oben.»
Nach Maiers Einschätzung wählten die Menschen in Thüringen die AfD nicht nur aus Protest. «Es sind doch sehr viele, die sie aus Überzeugung wählen. Also es sind keine Protestwähler, sondern die wollen eine Partei wählen, die rechtsextrem ist und ein autoritäres Staatsverständnis hat.» Brodocz geht davon aus, dass zwei von drei AfD-Wählern eine relativ feste Parteibindung entwickelt haben. «Sie fühlen sich der AfD verbunden, weil sie sich mit ihren politischen Forderungen identifizieren.» An ihnen perlten auch die Skandale einzelner AfD-Politiker ab.
Duell von CDU und AfD bei der Landtagswahl
Das recht gute Abschneiden der CDU, die nach der Landtagswahl einen Regierungswechsel anpeilt, bewertete der Politikwissenschaftler differenziert. Die Partei mit ihrem Spitzenkandidaten Mario Voigt habe ihre Stellung behauptet und die Erwartung auf ein Duell mit der AfD bei der Landtagswahl untermauert. «Aber der Abstand zur AfD im Vergleich zu Umfragen wurde nicht substanziell verkleinert.»
Bei der Europawahl waren rund 1,7 Millionen Thüringer aufgerufen, über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments zu entscheiden. Nach Angaben des Landeswahlleiterbüros ziehen aus dem Freistaat die CDU-Politikerin Marion Walsmann und Thüringens AfD-Vizechef René Aust dort ein. Aust führt die künftige AfD-Delegation im Europaparlament, wie Co-Parteichefin Alice Weidel mitteilte.
Machtwechsel in Erfurt
Rund 1,3 Millionen Menschen waren am Sonntag auch dazu aufgerufen, in Stichwahlen zu entscheiden, wer Landrat oder Oberbürgermeister werden soll. In neun von 15 Stichwahlen mischten AfD-Kandidaten mit, die alle scheiterten. Bei den Kreistags- und Stadtratswahlen vor zwei Wochen schaffte es die Partei aber, teils als stärkste Kraft durchs Ziel zu gehen. Brodocz wies darauf hin, dass es weiter politische Gestaltungsmöglichkeiten jenseits der Partei am rechten Rand gebe. «Im Alltag der Menschen wird das zunächst keine so starken Auswirkungen haben.»
In Erfurt führte die Stichwahl am Sonntag zum Machtwechsel: Oberbürgermeister und Amtsinhaber Andreas Bausewein von der SPD erhielt 35,8 Prozent, Andreas Horn von der CDU kam auf 64,2 Prozent. Bausewein war zuletzt stark in die Kritik geraten, vor allem wegen seines Agierens bei Personalquerelen am Erfurter Theater. Er stand 18 Jahre lang an der Spitze der Landeshauptstadt.
Auch in Gera wurde der Amtsinhaber abgewählt: Julian Vonarb verlor die Stichwahl gegen den bisherigen Ordnungsdezernenten Kurt Dannenberg von der CDU. Im Unstrut-Hainich-Kreis verlor überraschend der langjährige Amtsinhaber Harald Zanker (SPD) sein Amt. Landrat wird nun mit Thomas Ahke ein Kandidat der Freien Wähler.
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